Inventarnummer 1938
Geschrieben von Christian Klösch, TMW   

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Ausstellung zur Provenienzforschung am Technischen Museum Wien

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Seit der Verabschiedung des Österreichischen Kunstrückgabegesetzes 1998 durchforstet das Technische Museum Wien seine Bestände auf NS-Raubgut. Damit ist es weltweit eines der wenigen Technikmuseen, die systematisch und kontinuierlich Provenienzforschung betreiben. Und wohl als eines der ersten Museen überhaupt thematisiert es mit der Schau „Inventarnummer 1938“, die seit November zu sehen ist, das Schicksal der Menschen und der ihnen geraubten Objekte in einer Sonderausstellung.


Die öffentliche Diskussion um Provenienzforschung wird beherrscht von der Frage der Rückgabe wertvoller Kunstgegenstände, wie Gemälden und Zeichnungen von Klimt, Schiele oder Kokoschka. Doch dabei wird meist übersehen, dass die Nationalsozialisten nicht nur Kunstgegenstände, sondern hauptsächlich Objekte des alltäglichen Lebens, wie Radio- und Fotoapparate, Möbel, Fahrräder, Musikinstrumente, Wäsche, Autos oder Motorräder, aus dem Eigentum von „rassisch“ und politisch Verfolgten gestohlen haben. Die Besitzgeschichte von diesen Alltagsgegenständen lässt sich, falls diese die Krieg- und Nachkriegszeit überhaupt unversehrt überdauert haben, nur in sehr seltenen Fällen nachvollziehen. Manchmal finden sich diese Objekte dann auf Flohmärkten und Altwarengeschäften und werden von Liebhabern für private Sammlungen „entdeckt“, während die Entzugsgeschichte dieser Objekte meist unentdeckt bleibt. Im Technischen Museum Wien, das seit jeher Objekte des alltäglichen Lebens sammelt und auch in vielen Fällen deren Besitz- und Nutzungsgeschichte mitdokumentierte, lassen sich jedoch diese Objekte aus ehemaligen jüdischen Eigentum finden.

Alltagsgenstände und technische Objekte sind durch ihre Nutzung direkt an die Person und deren „Leben“ gebunden. Die Provenienzforschung am TMW hat dadurch die Chance, die alltägliche Praxis des NS-Raubzugs unmittelbar dokumentieren und rekonstruieren zu können.

Der Öffentlichkeit mag es seltsam erscheinen, dass sich die Provenienzforschung auch diesen Objekten widmet, da der Forschungsaufwand, die Besitzgeschichten rund um die Objekte zu rekonstruieren, den materiellen Wert der rückzugebenden Objekte meist weit übersteigt. Doch was den Nazis damals wert war, gestohlen zu werden, dafür darf sich die Republik Österreich nicht zu schade sein, es den rechtmäßigen EigentümerInnen zurückzugeben, auch nicht nach 75 Jahren und auch nicht, wenn es sich „nur“ um wenig spektakuläre Objekte wie einen Durchlauferhitzer handelt.

Über 80.000 Objekte, Bücher und Archivalien wurden bereits auf die Unbedenklichkeit ihrer Herkunft überprüft. Insgesamt konnte die Restitution in acht Fällen abgeschlossen werden, bei weiteren acht Fällen läuft derzeit die Suche nach ErbInnen.

Unter den Provenienzfällen des Technischen Museums Wien befinden sich beispielsweise ein Radio aus dem Besitz von Regine Ehrenfest-Egger (1867–1945), eine Briefwaage von ihrem Bruder Ernst Egger (1866–1944), eine Sammlung von Abbildungen landwirtschaftlicher Geräte von Siegfried Gerstl (1862–1938), Instrumente aus der Musikhandlung Sternberg oder Schallplatten mit Tonaufnahmen von Kaiser Franz Joseph I. aus dem ehemaligen Besitz von Paul Herzfeld.

Die Ausstellung „Inventarnummer 1938“ versucht erstmals den Umfang der Provenienzforschung am Technischen Museum Wien zu zeigen und eine Bestandsaufnahme des derzeitigen Forschungsstandes zu geben.

Der Nachlass des Technikhistorikers Dr. Ing. Hugo Theodor Horwitz Hugo Theodor Horwitz wurde am 27. Februar 1882 als Sohn des jüdischen Kaufmanns Simon Horwitz und seiner Ehefrau Eugenie in Wien geboren. Nachdem er in der Staatsrealschule in Wien-Leopoldstadt maturiert hatte, studierte er bis 1905 Maschinenbau an den Technischen Hochschulen in Wien und Berlin-Charlottenburg. Horwitz begeisterte sich schon früh für Technikgeschichte, ein Fachgebiet, das sich gerade erst entwickelte. 1912 ließ er sich in Berlin nieder, um in den folgenden zwei Jahren bei Conrad Matschoß, einem Pionier dieses Forschungszweigs, ein Doktoratsstudium zu absolvieren.

1915 kehrte Horwitz nach Wien zurück und begann eine intensive Auseinandersetzung mit theoretischen und methodologischen Fragen der Technikgeschichte. In 25 Jahren entstanden nahezu 100 Veröffentlichungen. In mancher Hinsicht wirken seine Ansätze erstaunlich aktuell: Er ging interdisziplinär vor und versuchte Technik und Naturwissenschaft mit Erkenntnissen der Prähistorik, Archäologie, Kunstgeschichte, Biologie und Völkerkunde zu verbinden. Horwitz darf damit nicht nur in Österreich als ein Pionier der Technikgeschichte gelten.

Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen, fand Horwitz, der seine Arbeiten vor allem im Nachbarland veröffentlicht hatte, auf Grund seiner jüdischen Herkunft kaum mehr Publikationsmöglichkeiten. Er geriet als Wissenschaftler in Vergessenheit. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 setzte auch die Verfolgung der Eheleute Hugo und Marianne Horwitz ein, die erfolglos versuchten, ins Ausland zu emigrieren.

Am 28. November 1941 wurden Hugo Theodor Horwitz und seine Gattin Marianne von den Nationalsozialisten aus ihrer Heimatstadt Wien ins Ghetto Minsk (Weißrussland) deportiert, wo sie vermutlich 1942 ermordet wurden. Einziger Überlebender der Familie war Anselm, der Sohn von Hugo Horwitz, der 1939 nach Irland emigrieren konnte und heute mit seiner Familie in Kanada lebt.

 Anfang 1942 informierte eine Farbenfabrik das Technische Museum über einen Kasten aus einer offenbar erst kürzlich übernommenen Wohnung, in dem sich Manuskripte, Fotos, Notizen, Briefe und technische Fachliteratur befanden. Auf diese Weise erhielt das Museum den Nachlass von Hugo Theodor Horwitz, bestehend aus 36 Mappen mit Manuskripten und Briefen sowie insgesamt 97 Büchern.


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Im Zuge der Provenienzforschung konnte die Entzugsgeschichte rekonstruiert werden. Der Beirat für Provenienzforschung empfahl am 14. Dezember 2005 sowie am 1. Juni 2007 die Rückgabe des Nachlasses an seine Erben. Mit Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde Wien konnte der Sohn von Hugo Horwitz gefunden werden. Im Oktober 2006 besuchte Anselm Barnet das Technische Museum Wien, wo ihm der Nachlass und die Bibliothek seines Vaters übergeben werden konnten. Mit Ausnahme von Familiendokumenten schenkte Anselm Barnet den Nachlass seines Vaters dem Technischen Museum Wien zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die Bibliothek seines Vaters wurde durch das Technische Museum Wien angekauft. Im Februar und April 2007 übergab Anselm Barnet weitere wertvolle Objekte aus dem Nachlass seines Vaters, die in seinem Eigentum standen, dem Technischen Museum Wien. Heute sind einige dieser Dokumente in einer kleinen „Horwitz-Schau“ dauerhaft vor dem Festsaal des Museums präsentiert.

Der Fiat 522 C der Ottakringer Kauffrau Rosa Glückselig Am 16. März 1938 wurde das Automobil der Marke Fiat 522 C (Baujahr 1931) des Ehepaares Moritz und Rosa Glückselig von der SA beschlagnahmt. Im September 1939 verkaufte der „Reichskassenverwalter der SA für die SA in Österreich“ das Fahrzeug um 700 Reichsmark (RM) an die Bundesgärten Schönbrunn, die es im November 1952 dem TMW als Geschenk übergaben. Im Zuge der Provenienzforschung am TMW konnte im Jahr 2006 der Entzug des Kraftfahrzeugs nachgewiesen werden.

Rosa und Moritz Glückselig betrieben ein Delikatessen- und Spezereiwarengeschäft in Wien-Ottakring. Moritz Glückselig, der am 1. Oktober 1890 in Niedersulz im Bezirk Gänserndorf geboren war, diente als Soldat im Ersten Weltkrieg. Er heiratete im Jahr 1920, die am 20. November 1896 geborene Rosa Heitler. Das Paar hatte zwei Söhne: Armin und Fritz, die 1924 und 1925 auf die Welt kamen. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurde Moritz Glückselig verhaftet und bis März 1939 in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald interniert. Nachdem das Geschäft samt Lager und die Wohnung mit der Einrichtung von den Nationalsozialisten geraubt worden waren, gelang es der Familie, im März 1939 nach Südamerika zu fliehen. Erste Exilstation war Bolivien, später übersiedelte die Familie nach Buenos Aires (Argentinien). Moritz und Rosa Glückselig eröffneten im Zentrum von Buenos Aires das Delikatessengeschäft „Fiambreria Austria“, das besonders von jüdischen Vertriebenen aus Deutschland und Österreich frequentiert wurde. Die Familie Glückselig war auch Mitglied in der österreichisch-argentinischen Exilorganisation „Klub Vorwärts“. Moritz Glückselig starb am 6. September 1972, seine Frau Rosa am 21. September 1974 in Buenos Aires, ein Sohn starb 1999 in Kanada. Im September 2000 nahm der letzte überlebende Sohn der Familie mit der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien Kontakt auf und berichtete über die Vermögensverluste der Familie nach dem „Anschluss“, unter anderem auch über den Fiat 522 C.

Im Juni 2007 empfahl der Kunstrückgabe-Beirat die Rückgabe an die Erben nach Rosa Glückselig (1896–1972). Im Juli 2008 konnte mit Hilfe der Israelitischen Kultusgemeinde Wien das Auto an den 86-jährigen Sohn der ursprünglichen Eigentümerin restituiert werden. Das Technische Museum Wien entschloss sich, den Wagen als bedeutendes zeithistorisches Objekt anzukaufen und in der Dauerausstellung mit seiner besonderen Geschichte auszustellen.


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„Autos mit Vergangenheit“ die Kraftfahrzeugdatenbanken des TMW Die im Zuge des Restitutionsverfahrens zum Fall Glückselig gesammelten Erfahrungen sowie die dabei angestellten Recherchen warfen weitere und tiefergehende (Forschungs-)Fragen auf und bildeten schließlich den Ausgangspunkt für ein internationales Forschungsprojekt. Gemeinsam mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und dem Deutschen Museum München entwickelte das Technische Museum Wien ein Forschungsprojekt, das sich erstmalig dem Entzug und der Restitution von Kraftfahrzeugen während und nach der NS-Zeit widmete.

„Autos mit Vergangenheit – Entzug und Restitution von Kraftfahrzeugen. Aspekte zur Verkehrsgeschichte Österreichs (1930–1955)“ – wurde vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung im Rahmen des forMuse-Programms im Zeitraum 2009–2012 gefördert. Die Ergebnisse des Projekts bildeten die Grundlage für die beiden Online-Datenbanken „NS-KFZ-Raub“ (ca. 3.000 Kraftfahrzeuge) und „Kraftfahrzeugbesitz in Österreich vor 1938“ (ca. 69.000 Kraftfahrzeuge), die seit 2012/13 über die Website des Museums frei zugänglich sind. In der Ausstellung sind die Datenbanken auch über zwei Terminals den BesucherInnen zugänglich.

Die Ausstellung „Inventarnummer 1938“ ist in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit, nicht nur auf Grund der Verschiedenheit der ausgestellten Objekte und deren Geschichte. Es ist zu hoffen, dass sie sich die Ausstellung mit der Zeit selbst abschaffen wird: Wenn die Objekte in Zukunft an die Familien der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben sind, soll sich die Ausstellung von einer Präsentation der Objekte zu einer Dokumentation der Rückgabe transformieren.

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