SS Cars - Wie die Schwalbe zur Raubkatze wurde |
Geschrieben von Wolfgang M. Buchta | |
Heft bestellen - SS Cars - Wie die Schwalbe zur Raubkatze wurde Wann und wo sich die Herren Charles Rolls und Henry Royce das erste Mal getroffen haben, ist in der Automobilgeschichte wohl dokumentiert. Über das erste Zusammentreffen der beiden Gründer einer anderen britischen Nobelmarke wissen wir wesentlich schlechter Bescheid. Wolfgang M. Buchta erzählt die Geschichte der Firma Jaguar, ehe die Marke so hieß Irgendwann im Jahre 1921 oder 1922 begegneten zwei junge Männer einander in den Straßen des nordenglischen Seebades Blackpool zum ersten Mal, oder genauer gesagt der jüngerere der beiden erspähte erstmals ein Produkt aus der kleinen Firma des Älteren. Anfang August 1922 jedenfalls beschlossen die beiden die Gründung einer Firma, die zu einer der berühmtesten britischen Automarken werden sollte. Klingt kompliziert und geheimnisvoll? Ist es auch! Also beginnen wir am besten chronologisch am Anfang. William "Bill" Walmsley, der ältere der beiden, wurde als Sohn eines wohlhabenden Kohlenhändlers in Stockport (nahe Manchester) geboren, wobei der Beruf des Vaters völlig egal ist, denn Bill wusste ganz genau, was er nicht werden wollte: Kohlenhändler. Für das Geld, das sein Vater damit verdiente, war unser junger Freund allerdings schon empfänglich. Bill Walmsley absolvierte eine Lehre als Waggonbauer und erwarb, wohl vom Geld des Herrn Papa, alsbald ein Motorrad, dem er einen Großteil seine Freizeit widmete. Wechselnde Damen wurden auf seinen Ausflügen im, und das ist jetzt für unsere weitere Geschichte wichtig, selbstgebauten Beiwagen untergebracht. In erster Linie war Bill Walmsley, mittler weilen nach absolviertem Militärdienst 30 Jahre, zwar Sohn, aber Hobby-Unternehmer und Beiwagenfabrikant waren ein durchaus interessanter "Nebenberuf". Im nahe gelegenen Gordon, nur einige Meilen von Stockport entfernt, lebte ein anderer William, 10 Jahre jünger, aber ebenfalls ein begeisterter Motorradenthusiast. William Lyons, so der Name des jungen Mannes, wurde am 4. September 1901 als Sohn eines Musikalienhändlers geboren. Auch ihm war klar: Ein Einstieg in das Unternehmen seines Vaters, das "Lyons's Music and Pianoforte Warehouse" stand ganz weit unten auf der Liste seine möglicher Karrieren. Da war die Lehre bei der Firma Crossley, die in Gordon LKW für das Militär herstellte, schon eher nach seinem Geschmack. Die Fabrikarbeit war aber nicht auf Dauer für Lyons' Naturell geeignet und so zählte er noch keine 20 Jahre als er sich im 40 Meilen entfernten Blackpool bei einer Vertretung für Motorräder der Marke Sunbeam als Verkäufer verdingte. Selbst fuhr er eine Sunbeam und später eine Norton mit Beiwagen. Für letztere suchte er einen neuen Beiwagen. Allerdings sollte es keiner der handelüblichen, unförmigen Ungetüme sein, sondern irgendetwas Elegantes und Sportliches ... Zwischenzeitlich hatte Vater Walmsley die Kohlenhandlung verkauft und Sohn Bill hatte zwei Verwandte in seine Firma genommen und der Familienbetrieb begann mit der Fertigung und Montage von selbst entworfenen Beiwagen, meist auf einem Chassis der eingeführten Firma Watsonian. Auch einige Maschinen aus Militärbeständen wurden erworben, renoviert und weiterverkauft. Da dem "Sohn" der kommerzielle Druck fehlte, lief die Firma mehr schlecht als recht - die jungen Herren bastelten meist zum Hobby an den eigenen Maschinen. Im Juni 1921 übersiedelten die Walmsleys auch nach Blackpool und siedelten sich in der King Edwards Avenue an, ganz in der Nähe von William Lyons Unterkunft. Als Lyons jetzt des Beiwagens der neuen Nachbarn ansichtig wurde - zigarrenförmig und aus poliertem Aluminium mit der Aufschrift "Swallow", also eine ziemlich futuristische Sache - konnte er nicht umhin, diesen anzusprechen. Und bald war Lyons Kunde der Garagenfirma hinter dem Haus 23 King Edward Avenue. Der frisch gebackene Swallow-Beiwagen-Besitzer erkannte rasch, dass für so schicke Beiwagen durchaus ein Markt vorhanden war, den Walmsley bei weitem nicht befriedigen konnte. Lyons beglückte Walmsley mit Plänen, Prognosen und Kalkulationen, bis dieser eigentlich nicht anders konnte, den jüngeren als Partner anzunehmen. Anfang August beschlossen sie die gemeinsame Gründung der "Swallow Sidecar Company", ein Unterfangen, das von Thomas Walmsley, dem pensionierten Kohlenhändler, eifrig gefördert wurde. Er verschaffte der jungen Firma einen Kredit über 1.000 Pfund Sterling, einen fähigen Buchhalter und schließlich eine kleine Werkstätte im Süden der Stadt. Walmsley sen. war von den kaufmännischen Fähigkeiten Lyons' offensichtlich mehr überzeugt als von denen seines eigenen Sohnes. Kurioses Detail am Rande: Da Lyons erst am 4. September 1922 21 Jahre alt wurde mussten alle Schriftstücke von einem der beiden Senioren - Walmsley oder Lyons - unterzeichnet werden. Lyons gab seinen Job als Motorradverkäufer auf und war endlich selbstständig. Er heuerte eine Handvoll Arbeiter an - Spengler, Lackierer und Tapezierer. Damit konnte endlich mit der "serienmäßigen" Produktion von Beiwagen begonnen werden. Die Konstruktion wurde vereinfacht - statt des achteckigen Querschnitts wurde ein fünfeckiger gewählt, wodurch bei gleich gutem Aussehen die Produktionskosten gesenkt werden konnten. Dank langer, harter Arbeitsstunden blieb der kommerzielle Erfolg nicht aus und die beiden Besitzer konnten sich neue Motorräder leisten - Harley-Davidson, Indian und schließlich sogar Brough Superiors, natürlich mit Swallow-Beiwagen vom Typ SS 80 resp. SS 100. Dank des Erfolges war 1926 ein Standortwechsel angesagt. Mit der Übersiedlung in eine deutlich größere Fabrik in einem anderen Stadtteil von Blackpool (wieder durch Mr. Walmsley sen. finanziert!) ging auch ein Wechsel im Firmenwortlaut einher - die "Swallow Side Car and Coachbuilding Company" beschäftigte sich jetzt auch mit der Reparatur von Automobil-Karosserien. Die aufstrebende Firma suchte laufend neue Mitarbeiter, was in Zeiten, da andere Firmen Entlassungen aussprechen mussten, nicht selbstverständlich war. Aber Lyons war mit diesen Erfolgen nicht zufrieden und hatte bereits das nächste Ziel im Auge - Lyons wollte "Motor Manufacturer", also Automobilbauer, werden. Von der Reparatur von Karosserien war es zum Bau von Karosserien kein allzu großer Schritt mehr, und als ein gewisser Cyril Holland in die Dienste der Firma Swallow trat, sollte dies weit reichende Folgen haben. Holland war gelernter Karosseriebauer und musste die Pläne zeichnen, die Formen und Werkzeuge anfertigen und er war der erste Mitarbeiter, der nichts mehr mit dem Beiwagenbau zu tun hatte. Das erste, und im Jahre 1926 einzige, Fahrzeug, das mit einer Karosserie von Swallow versehen wurde, war ein Talbot, der sich bei einem Rennen überschlagen hatte. Im Jänner 1927 fand auf dunklen Kanälen ein fabrikneues Chassis eines Austin Seven seinen Weg nach Blackpool. Herbert Austin hatte nämlich überhaupt kein Interesse, dass neue Chassis in fremde Hände kommen sollten. Daher wurde die Rechnung auch nicht auf "Swallow" ausgestellt, sondern auf den Privatmann William Lyons. Dieser drückte seinem Karosseriebauer Cyril Holland eine Skizze eines rundlichen Aufbaus mit schickem Kühler und ovalem Heckfenster in die Hand und sagte dazu wahrscheinlich "Und jetzt machen Sie bitte was draus!", und Holland "machte". Bald kamen weitere Chassis ins Haus, und es entstanden ein "Morris-Swallow" und ein "Clyno-Swallow". Natürlich gab es auch Probleme - beispielsweise brachen die Stützen der Kotflügel fallweise ab und diese fielen dann auf die Räder. Irgendwann im Winter 1927/28 kam es dann zu einer anderen folgenschweren Begegnung. Bert Henly betrieb mit seinem Partner Frank Hough "Henlys of London", einen großen und schnell wachsenden Autohandel. Lyons und Henly lernten einander kennen und schätzen. War es die Sympathie oder war es die gelungene Form des "Austin Seven Swallow Saloon" - jedenfalls kehrte Lyons mit einem Auftrag über 500 (!) Limousinen und Zweisitzer nach Blackpool zurück. Statt Freude zeigte sein Partner Walmsley nur Entsetzen und erklärte ihn für verrückt. Die Werkstätte in Blackpool war für derartige Stückzahlen ganz einfach nicht eingerichtet. So limitierte die Lackieranlage den Ausstoß auf zwei Fahrzeuge pro Tag. Was Walmsley erst langsam dämmerte - Lyons dachte bereits weiter und hegte schon wieder Umzugspläne. Im November 1928 war es dann so weit. Die "Swallow Side Car and Coachbuilding Company", die mittlerweilen dem ambitionierten Namen sogar gerecht wurde, übersiedelte ins 120 Meilen entfernte Coventry, dem Zentrum der britischen Automobilindustrie. Dort fand sich nicht nur eine (seit 10 Jahren leer stehende!) ehemalige Munitionsfabrik, sondern auch genügend geschulte Mitarbeiter, denn nur ein Teil der Belegschaft konnte zum Umzug überredet werden. Walmsley war von den Expansionsbestrebungen seines Partners alles andere als begeistert und die beiden, obwohl sie sich persönlich verstanden, entwickelten sich allmählich auseinander. Die Übersiedlung nach Coventry, die natürlich die laufende Produktion nicht all zu sehr behindern durfte, hatte auch noch andere Vorteile: In Coventry waren zahlreiche Zulieferer angesiedelt, und kürzere Transportwege bedeuteten geringere Transportkosten und damit höhere Gewinnspannen. Zusätzlich zu dem Austin Seven mit Swallow-Karosserie entstand eine Serie von Swallow-gekleideten Fiat 509 A, die den schwer verkäuflichen Modellen einen gewissen Chic verliehen. Auch Chassis des Swift 10 und des Standard 9 wurden bei Swallow eingekleidet. 1929 durfte Swallow seine Produkte erstmals auf der prestigeträchtigen London Motor Show in Olympia präsentieren. Ebenfalls in Coventry angesiedelt war der Automobilbauer "Standard Motor Company" mit ihrem Gründer Reginald Maudslay, der einen Captain John Black von Hillman abgeworben hatte und als General Manager angestellt hatte. Lyons und Black verstanden sich auf Anhieb gut, und so wurden die Beziehungen zwischen der großen Standard Motor Company und dem kleinen Karosseriebauer Swallow vorsichtig vertieft. Zwar baute Swallow nach wie vor Karosserien für den Austin Seven oder den Wolseley Hornet, aber die Beziehung zu Standard wurden intensiver. Der Grill des Standard Big Nine harmonierte nicht gut mit der Karosserie von Swallow, so entwarf Lyons einen neuen Grill, der in ganz ähnlicher Form auch auf den Serienmodellen von Standard auftauchen sollte. Captain Black sah in der Kooperation mit Lyons eine Möglichkeit, das etwas langweilige Image seiner Produkte zu verbessern. Dafür war er nicht nur bereit Swallow mit "running chassis" zu beliefern, sondern ging sogar auf deren Wünsche nach einem speziellen Chassis ein. So entstand für Olympia 1931 ein neues Modell, der SS 1, wobei das Kürzel "SS" nicht mehr für "Swallow Sidecars" stand, sondern jetzt als "Standard Swallow" interpretiert wurde. Lyons entwarf den SS 1 mit flacher Silhouette, langer Motorhaube, geneigter Scheibe und einer niedrigen Dachlinie. Zumindest hatte sich Lyons den Wagen so vorgestellt. Denn als er nach einer Blinddarmentzündung nach einigen Wochen aus dem Spital zurückkam, traf in fast der Schlag - sein Partner hatte die Dachlinie angehoben und, zumindest sah es Lyons so, die Form des Wagens völlig ruiniert. Wie auch immer - wenige Wochen vor Olympia war an einen Umbau nicht mehr zu denken, so musste Lyons den Wagen zähneknirschend akzeptieren wie er eben war. Lyons konnte sich vorerst nur damit trösten, dass die Firma SS erstmals als Hersteller in der Haupthalle ihren Stand haben durfte und nicht "nur" bei den Karosseriebauern. Im Laufe der Show musste Lyons nach und nach erkennen, dass die von ihm so geschmähte "Missgeburt" scheinbar für alle anderen ein perfekt geformtes Fahrzeug war. Die Zeitungen überschlugen sich vor Lob und das Publikum war begeistert. Am Stand standen zwar noch zwei weitere Fahrzeuge - ein Austin Seven mit Swallow-Karosserie und ein SS 2, der auf dem Chassis des kleineren Standard Little Nine aufgebaut war. Allerdings war der Star, der SS 1 alles andere als fahrbereit. Es fehlte an allerlei technischen Details - der Wagen war einfach nicht fertig geworden und wurde erst nach der Show zu Ende gebaut. Bei Henly wurde der Wagen als "Coupe im 1000-Pfund-Look zum Preis von nur 310 Pfund" beworben. Und Henly bestellte gleich wieder 500 Exemplare. Wie nicht anders zu erwarten litt das neue, überhastet entwickelte Modell unter diversen Kinderkrankheiten. Der Motor wurde heiß, der Wagen sprang nicht an oder hatte Getriebeprobleme - kurz die Serviceleute von Henly hatten alle Hände voll zu tun. Dem Erfolg der jungen Marke schadete dies allerdings nur wenig und SS konnte auch die ersten Exporterfolge vermelden. Wagen Nummer 9 ging beispielsweise nach Österreich, wo ihn der Importeur Koch in Februar 1932 auf der Wiener Autoausstellung präsentierte. Der Schweizer Emil Frey hatte bereits Swallow Beiwagen importiert, jetzt folgte der erste SS. Technisch hatte das zweisitzige Coupe ein tiefer gesetztes Chassis des Standard Sixteen und dessen unmodifizierten Sechszylinder-Motor. Der Motor hatte einen Hubraum von 2.054 ccm und leistete 48 PS. Da die Fahrleistungen von 105 km/h mit der Optik nicht ganz in Einklang standen, hatte bereits der erste SS 1 einen 20-HP- Motor, mit auf 2.663 ccm vergrößertem Hubraum. Die 62 PS waren für eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h gut. In den folgenden Jahren kamen zum Coupe weitere Karosserieformen dazu - eine viertürige Limousine, ein viersitziger Tourer und ein spektakulärer "Airline Saloon" mit stromlinienförmiger Karosserie, zwei Türen und Fließheck. Derartige Karosserieformen waren auch bei anderen Herstellern in Mode - William Lyons hasste die Form aus ganzem Herzen und nach kaum einem Jahr (und 573 gebauten Exemplaren) wurde dessen Produktion wieder eingestellt. Der offene Tourer war natürlich das leichteste Modell und mit diesem Modell unternahm die junge Marke die ersten schüchternen Versuche im Motorsport. Bis 1932 wurde der SS 1 in der Form, wie auf der Motorshow präsentiert, gebaut, ehe William Lyons nach 500 Stück doch die Form nach seinen Vorstellungen adaptierte. Insgesamt wurde vom SS 1 bis Juli 1936 die stattliche Anzahl von 4.254 Exemplaren gebaut. Mit Preisen zwischen 310 und 395 Pfund war der Wagen mit der sportlichen Optik deutlich preiswerter als die Mitbewerber. Der "kleine" SS 2 hatte den Vierzylinder-Motor des Standard 9 HP. Aus einem Hubraum von 1.004 ccm leistete der Motor 28 PS. Die Fahrleistungen waren nicht berauschend, aber der Wagen fand trotzdem genug Liebhaber, denen die sportliche Optik zusagte. Zudem war der SS 2 mit Preisen zwischen 210 und 260 Pfund deutlich billiger. Im Laufe der Produktion wurde der Motor zweimal vergrößert und wurde so vom Nine zum Ten und schließlich zum Twelve. (Die HP-Angaben bezeichnen nicht die Leistung des Motors sondern die damals in England üblichen Steuer-PS, die proportional zum Hubraum sind.) Bis zur Einstellung der Produktion im Sommer 1936 wurden immerhin 1.736 Exemplare gebaut. Bereits im Jänner 1935 war der nächste wichtige Schritt in der Entwicklung der Firma - "SS Cars Ltd.", wie das Unternehmen mittlerweilen hieß, ging an die Börse. "SS Cars Ltd." war ein Tochterunternehmen von Swallow und der Beiwagenbau, der noch immer betrieben wurde, trennte sich endgültig vom Automobilbau. Getrennt haben sich zu diesem Zeitpunkt auch die Wege der Partner Walmsley und Lyons. Walmsley, dem die Expansionsbestrebungen seines Partners ja schon lange unheimlich waren, ließ sich auszahlen, und kaufte sich von dem Geld einen Rolls Royce und einen Wohnwagenhersteller. Letzterem war allerdings kein langes Leben beschert. Persönlich blieben die beiden allerdings bei ihren gelegentlichen Treffen immer auf freundschaftlicher Basis. Endlich war Lyons als Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender Herr im eigenen Haus und wieder einmal strebte er nach Höherem. 1935 kam zwei neue Varianten des SS 1 auf den Markt - ein Cabriolet (im englischen Sprachgebrauch ist ein Cabriolet, oder auch "Drop Head Coupe" genannt, ein besser ausgestatteter offener Wagen mit gefüttertem Dach. Der Tourer oder Roadster hingegen hat bescheidenere Ausstattung und ein simples Dach.) und, das ist für die weitere Entwicklung wichtiger, einen zweisitzigen Roadster. Der Zweisitzer hatte einen auf 2.465 mm verkürzten Radstand und den 2,6-Liter- Motor. Die neue Variante hieß auch nicht mehr SS 1 sondern SS 90, ein dezenter Hinweis auf die Höchstgeschwindigkeit von 90 Meilen, also gut 140 km/h. Die Praxis, in die Namensgebung die Höchstgeschwindigkeit einfließen zu lassen, sollte ja im Hause noch eine lange Tradition bekommen. Vom SS 90 wurde zwar nur die vernachlässigbare Stückzahl von wahrscheinlich 24 Exemplaren gebaut ("wahrscheinlich" deswegen, weil der SS 90 in den Produktionszahlen nur als Variante des 20 HP und nicht als eigenes Modell geführt wurde), aber er wies den Weg in die richtige Richtung. Da Captain Black, der Boss von Standard, sich bei aller Freundschaft zu Lyons weigerte, die gelieferten Motoren in Sache Motorleistung weiter zu entwickeln, heuerte Lyons einen gewissen Harry Weslake an, der den seitengesteuerten Kopf zu einem OHV-Motor umkonstruierte. Der überarbeitete Motor wurde angeblich bereits in einige SS 90 eingebaut, die offizielle erste Auslieferung waren zwei SS 1, die an eine Polizeieinheit gingen. Wieder war Lyons in seinem Bestreben ein "echter" Automobilhersteller, der alles selbst entwickelte und produzierte, zu werden, einen Schritt näher gekommen. Was auch an der Zeit war, denn Standard hatte mit den Sonderwünschen ihres Großkunden zunehmend weniger Freude. Als nächstes stand im Oktober 1935 wieder einmal eine Motor-Show am Programm, zu der "SS Cars" wieder mit echten Neuigkeiten aufwarten konnte. Einerseits in der Namensgebung: Der Name "Swallow", also "Schwalbe" war für die Beiwagen und die Austin Seven eine nette, freundliche Assoziation gewesen, die allerdings zum Image der Sportwagen nicht mehr so recht passen wollte - jetzt war aggressiveres gefragt, beispielsweise ein Raubvogel oder vielleicht auch eine Raubkatze. Der von Lyons favorisierte Name "Jaguar" hatte nur einen kleinen Haken. Im Ersten Weltkrieg hatte die Firma Siddeley einen Flugmotor namens "Jaguar" produziert und hielt noch immer die Namensrechte. Eine bescheidene Anfrage in aller Diskretion klärte diesen Punkt und der neuen Nomenklatur stand nichts mehr im Wege. Bei der Pressekonferenz vor der Motor- Show am 21. September 1935 konnte Lyons daher den Journalisten gleich zwei neue Modelle präsentieren. Der kleine "Jaguar 1.5 Liter" war als Nachfolger des SS 2 mit einem 1,6-Liter-Vierzylinder-Motor ausgerüstet, aber mit neuer Karosserie. Der aus heutiger Sicht gesehen eigentliche Star der Show, ein SS 100 genannter Sportwagen, stand damals etwas im Schatten seines kleinen Bruders. Die Linie des SS 100 erinnerte auf den ersten Blick an den SS 90 - also ein zweisitziger, niedriger Roadster, unterschied sich aber in zahlreichen Details (Kotflügel, Kühlergrill) und die wahre Neuigkeit lag unter der Motorhaube: Harry Weslake's OHV-Motor mit 102 PS bei 4.600 U/min. Damit lag die Höchstgeschwindigkeit bei (fast echten) 100 Meilen (160 km/h), womit auch die Namensgebung erklärt ist. Dieser Motor war auch im "Jaguar", also in der Limousine, erhältlich, der bei identischer Karosserie dann "Jaguar 2.5" hieß. Anfang Dezember 1935 wurden die ersten Serienmodelle des Jaguar ausgeliefert, die alsbald bei der Rallye Monte Carlo und der Alpenfahrt ihr Debüt im Motorsport gaben. Im Frühjahr 1936 folgten die ersten Auslieferungen des SS 100. Erstmals hatte Lyons einen echten Konkurrenten zum BMW 328, zu Aston Martin und sogar zu Alfa Romeo im Angebot - und das mit 395 Pfund zum halben Preis der Konkurrenz. Mit dem Erfolg der neuen Modelle ergab sich die paradoxe Situation, dass der einstige Karosseriebauer nicht mehr in der Lage war alle Blechteile selbst zu fertigen, und daher Teile der Produktion außer Haus geben musste. Dem kommerziellen Erfolg tat dies keinen Abbruch. Am Ende des Geschäftsjahres 1936/37 (das Geschäftsjahr endete immer am 31. Juli) waren 2.470 Fahrzeuge ausgeliefert worden und die Aktionäre konnten sich über eine Ausschüttung von 12,5 Prozent Dividende freuen. Der Herbst 1937 sah wiederum Neuerungen: Ein neuer Sechszylinder-Motor hatte jetzt einen Hubraum von 3.485 ccm und der kleine Jaguar wurde von 1,6 auf 1,8 Liter vergrößert. Jetzt waren die Modelle von Jaguar wahlweise mit Motoren von 1,8, 2,5 und 3,5 Liter Hubraum erhältlich (die Hubraumangaben in Liter sind keine Rundungsfehler - Jaguar gab als Typenbezeichnung immer abgerundete Motorengrößen an). Die Karosserien, jetzt als Limousine und Cabriolet erhältlich, waren erstmals in Ganzstahlausführung gefertigt, wodurch die aufwendigen, traditionellen Karosseriebauarbeiten vereinfacht werden sollte. Allerdings hatten die Karosseriebauer mit der neuen Technologie anfangs ihre Probleme, so dass um den Jahreswechsel 1937/38 für fast vier Monate fast keine Fahrzeuge ausgeliefert werden konnten. Lediglich der SS 100 mit traditioneller Karosserie war verfügbar. Was in dieser Zeit ebenfalls ungestört ausgeliefert wurde, waren "running chassis", also Fahrgestelle ohne Karosserie. Diese wurden dann bei verschiedenen Firmen im In- und Ausland mit Aufbauten versehen, wobei die Resultate optisch nur selten an das Original aus Coventry heran kamen. Diese Probleme schlugen sich natürlich in den Stückzahlen wie auch in der ausbezahlten Dividende nieder. Aber bereits im nächsten Geschäftsjahr sollte der Umsatz wieder auf 5.000 Fahrzeuge steigen. Zugpferd war mehr und mehr der SS 100, der durch Sporterfolge, den Ruf der Marke festigte und bis weit in Nachkriegszeit das sportliche Image garantierte. Zwischen 1936 und 1939 wurden in Summe 190 Stück mit dem 2,5-Liter-Motor sowie weiter 115 Exemplare mit dem 3,5-Liter Motor gebaut. Dazu kamen einige wenige "running chassis" und ein 1938 präsentiertes Coupé, das allerdings ein Einzelstück blieb. Eine 3,5-Liter-Limousine war der bestplatzierte britische Wagen bei der Rallye Monte Carlo im Jahre 1939. Aber auch in der Luxusklasse begann die Marke Fuß zu fassen, so ließ sich Captain John Black von Standard bei Mulliner in Birmingham auf einem Chassis des Jaguar 3,5 Liter eine Limousine mit Trennscheibe zum Fahrer anfertigen. Die Serienlimousinen hatten identische Karosserien. Die Fahrleistungen variierten der Motorgröße entsprechen natürlich gewaltig. Während der 1,8 Liter Motor des Jaguar 1,5 (der kleinste Jaguar trug noch immer diese Typenbezeichnung) das rund 1.300 kg schwere Gefährt mit Müh und Not auf 115 km/h brachte, kam der 3,5 Liter (mit dem Motor des SS 100) gut und gern auf 145 km/h. Lyons hatte mittlerweilen in seinen Plänen die Produktion auf 200 Stück pro Woche hochgeschraubt, als der Zweite Weltkrieg begann. Damit waren Expansion und Produktionsausweitung fürs erste einmal beendet. Ganz im Gegenteil wurde die Produktion zurückgefahren. Nur noch bereits begonnene Fahrzeuge durften fertig gestellt werden. Im letzten Geschäftsjahr bis 31. Juli 1940 wurden nur mehr 899 Fahrzeuge produziert und im Dezember 1941 wurde schließlich der letzte Jaguar 3,5 ausgeliefert. Jetzt hatten andere Dinge Priorität. Wie alle anderen Automobilhersteller wurde "SS Cars" für das Kriegsministerium tätig. Die lange vergessene Produktion von Motorrad-Beiwagen wurde wieder aufgenommen - für die Armee entstanden fast 10.000 Stück, die allerdings mit den eleganten "Swallow Sidecars" keinerlei Ähnlichkeit hatten. Auch sonst ließen die neuen Produkte wenig Raum für Sportlichkeit und Eleganz: Transportanhänger, Pferdekarren, Munitionskisten, Tanks für Flugzeuge, leichte Panzerwagen, Flugzeugrümpfe und Tragflächen. Für den Automobilbau blieb da wenig Zeit. Unter der Bezeichnung "VA" entstand ein geländegängiges Versuchsfahrzeug mit Einzelradaufhängung und einem JAP-Motorradmotor im Heck. Das leichte Fahrzeug war für den Fallschirmabwurf konzipiert, wurde allerdings nie dafür eingesetzt, ebenso wenig wie das Nachfolgemodell "VB", das von einem Motor des Ford Eight angetrieben wurde. Der "VB" wurde zwar von der Armee erprobt, mit der Lieferung der ersten Jeeps wurde die Entwicklung aber eingestellt. Diese wenig glamourösen Produkte der Kriegsjahre hielten das Unternehmen aber zumindest am Leben, und erlaubten es Lyons die Firma wieder einmal umzustrukturieren und Pläne für die Nachkriegszeit zu machen. Die noch immer bestehende Firma Swallow wurde an die Firma Heliwell verkauft. Diese sollte nach dem Krieg wieder mit dem Bau von Beiwagen beginnen und brachte 1946 sogar Swallow-Motorroller auf den Markt. 1954, die Namensrechte hatten wieder einmal den Besitzer gewechselt, feierte der Name "Swallow" mit dem Swallow-Doretti, einem Sportwagen mit Triumph-Motor, kurzeitig eine Auferstehung. Nach der Produktionseinstellung im Jahre 1955 gingen die Rechte an Watsonian, zufälligerweise ausgerechnet jenem Beiwagenhersteller, der die Chassis zu Bill Walmsley's ersten Swallow Sidecars geliefert hatte. Auch die mittlerweilen zum Konzern gehörende Firma "Motor Panels Ltd." wurde verkauft. Lyons kalkulierte, dass die externe Fertigung der Blechteile günstiger sein würde, als die Modernisierung der Fabrik. Wann und wo sich die Herren Charles Rolls und Henry Royce das erste Mal getroffen haben, ist in der Automobilgeschichte wohl dokumentiert. Über das erste Zusammentreffen der beiden Gründer einer anderen britischen Nobelmarke wissen wir wesentlich schlechter Bescheid. Als das Kriegsende abzusehen war, mussten alle Hersteller Pläne für eine Wiederaufnahme der Produktion machen. Wie auch die meisten anderen war dies vorerst eine Neuauflage der Vorkriegsmodelle. Bis Kriegsbeginn hatte Lyons Chassis und Motore fertig von Standard bezogen. Die Entwicklungen von Harry Weslake waren dort in die Produktion eingeflossen. John Black war einer jener Industriekapitäne, die den Neubeginn konsequent durchführen wollte und die Produktion auf ein einziges, neues Modell mit selbsttragender Karosserie umstellte. Da war die Produktion von Chassis und Motoren für Lyons eine unwillkommene Last. Black bot seinem Freund und Kunden die Übernahme der ganzen Produktionseinrichtungen zu einem fairen Preis an und dieser griff ohne zu zögern zu. Gleichsam unfreiwillig wurde Lyons so endlich zum "echten" Automobilhersteller mit eigener Motorfertigung. Jetzt wurde das Unternehmen wieder einmal umgebaut, allerdings nur der Name. Nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs war das Kürzel "SS" nicht wirklich populär und das Markenzeichen aus kantigen Buchstaben erinnerte überdies fatal an die SS-Runen der Schwarzhemden. Zusätzlich war William Lyons, jetzt wo man ja sein eigener Motorenbauer war, durchaus bestrebt, sowohl die Assoziationen zu Swallow wie auch zu Standard zu tilgen. Im September 1945 erfuhr die Öffentlichkeit, dass die bereits im März so benannte "Jaguar Cars Ltd." wieder Automobile anbieten konnte. Aber nicht nur der Name sollte sich ändern: Langjährige Mitarbeiter waren aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen, und neue Mitarbeiter kamen ins Unternehmen, beispielsweise F.R.W. "Lofty" England, der lange Jahre als Marketingchef und Rennleiter bei Jaguar wirken sollte. Die rohstoffarme englische Wirtschaft musste den Export ankurbeln ("Export or Die!"), um Devisen für den Einkauf von Rohstoffen zu bekommen. Wichtigster Markt für Jaguar war anfangs Australien, die USA gewannen erst später an Bedeutung. Allmählich entstand auch in den kriegsverwüsteten europäischen Ländern wieder ein Markt für sportliche Luxuswagen, denn das war Jaguar inzwischen geworden. Wirklich preisgünstig wie in der Vorkriegszeit waren die Raubkatzen aus Coventry nicht mehr. Wie bereits gesagt wurde Ende 1945 die Produktion bei Jaguar mit einer praktisch unveränderten Neuauflage der Jaguar-Limousinen aus der Vorkriegszeit wieder begonnen. Der SS 100 sollte keine Neuauflage erfahren. Der Jaguar 1.5 wurde 1948 eingestellt. Bei seiner traditionellen Pressekonferenz vor der Motor Show Ende September 1948 konnte Lyons den Journalisten zwei neue Modelle ankündigen - eine neue Jaguar Limousine mit der Bezeichnung "Mk. V", also übersetzt etwa "Serie V" würde präsentiert werden. Die Motorisierung der Mk. V war gleich geblieben - wahlweise 1,5 oder 2,5 Liter - das Chassis war überarbeitet worden und die Karosserie war neu, aber ganz in der Tradition verhaftet. Mehr Aufregung verursachte die Ankündigung eines neuen Sportwagens. Sofort wurden Spekulationen über eine Neuauflage des SS 100 laut. Bereits während der Kriegsjahre, die Legende spricht von langen, langweiligen Feuerwachen, hatte Harry Weslake einen komplett neuen Motor konstruiert. Eigentlich waren es eine ganze Reihe von Motoren - ein Vierzylinder mit der Bezeichnung "XF" (X für "experimental") mit 1.360 ccm Hubraum und zwei obenliegenden Nockenwellen, einen "XG" mit seitliche Nockenwelle und hängenden Ventilen, einen "XJ" in OHC-Bauweise und zwei Liter Hubraum und schließlich den "XK" mit sechs Zylindern und 3,2 Liter Hubraum. Letzterer wurde schließlich auf 3,4 Liter und 160 PS vergrößert und stand als XK 120 in einer schnittigen Alukarosserie gekleidet auf der Motor-Show. Richtig vermutet, die Zahl sollte die (angenäherte) Höchstgeschwindigkeit von 120 Meilen (190 km/h) symbolisieren. Im Katalog von 1948 wurde auch ein "kleiner Bruder", der XK 100 mit dem Vierzylinder-OHC-Motor angeboten, der allerdings nie realisiert wurde. Lyons sah den XK 120 nicht als Verkaufschlager, sondern setzte auf die Limousinen. Die erste Serie des XK 120 wurde daher nur auf eine Stückzahl von 200 Exemplaren ausgelegt - so können auch große Männer irren! |
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